Die westliche (christliche) Welt ist spätestens seit dem 19. Jahrhundert ein Vorbild für alle anderen Länder – und das nicht nur in wirtschaftlichen Fragen, sondern auch in gesellschaftlichen. Bis dahin kleideten sich Menschen in Tokio und Ankara anders als in Europa.
Demnach bist du der Meinung, dass etwa der Fez fest zur europäischen Mode gehörte? Halte ich für eine steile These.
Doch Washington und Moskau glichen sich, denn die Europäisierung Russland hat schon Peter der Große vorangetrieben, was sich im 18. Jahrhundert mit der Katharina II. und der Übernahme der (westlichen) Aufklärungsideen fortsetzte.
Ich draf dir an dieser Stelle Tolstojs "Anna Karenina" zur Lektüre ans Herz legen.
Einfach als zeitgenössische belletristische Beobachtung der sehr unterschiedlichen Verhältnisse allein in der Moskauer und der St. Petersburger Gesellschaft.
Vom westlichen Ausland nicht zu reden.
Ich rege auch an, was Russland betrifft, die Idenn die etwa Peter der Große so hatte, mitdenjenigen weit verbreiteten Anschauungen der Slawophilen aus dem 19. Jahrhundert zu vergleichen, da tun sich erhebliche Unterschiede auf.
Im Großen und Ganzen gab es schon die gleichen – nicht dieselben!
Sicher vorrausgesetzt, dass man sämtliche Formen und Inhalte ausblendet.
Und in Skandinavien, England und USA herrschten noch strikteren moralischen Vorstellungen der Lutheraner/Pietisten als in überwiegend katholisch geprägten Ländern; diese wirken in den USA bis heute nach.
Moralvorstellungen haben vor allem etwas mit der strukrurellen Entwickung einer Gesellschaft zu tun.
Und in diesem Zusammenhang ist es herzlich sinnlos irgendwas von allgemeingültigen Moralvorstellungen allein innerhalb einzelner Läder zu schwadronieren.
Die Moralvorstellungen in einer agrarisch geprägten Dorfgemeinde und die in einer zunehmend modernen Industriemetropole in ein und dem selben Land konnten und können sehr sehr verschieden ausfallen.
Verhaltensweisen und Anschauungen, die im Berlin oder London der 1890er Jahre als völlig normal galten, wären irgendwo auf dem platten Land selbstverständlich höchst argwöhnisch beäugt worden.
Das ein Großteil der extremischen Bewegungen des ausgehenden 19. und beginnendenn 20. Jahrhunderts besonders gern den angeblichen "Sittenverfall" in den Großstädten anprangerte und mit diesen Vorstellungen auf dem Land durchaus Zustimmung fanden, kommt ja nicht von ungefähr.
Widerspruch: Auch damals wechselte die Mode, allerdings nicht so schnell wie heute: Vergleiche bitte die Mode in der Romanik mit der in Gotik.
Romanik und Gotik sind keine bloßen Moden, sondern haben zunächstmal was mit Fähigkeiten zu tun.
Die Gotik setzte Bautechniken voraus, die die Romanik nicht kannte.
Damals dauerte es halt, bis sich bis in die letzte Burg Europas herumsprach
Ich weiß nicht wie du auf die Idee kommst Burgen mit irgendwelchen Modeerscheinungen in Zusammenhang zu bringen.
Burgen sind zunächst mal militärische Funktionsbauen, die sinnvoller Weise den lokalen Verhältnissen anzupassen waren:
- Wirtschaftliche Möglichkeiten der jejweiligen Burgherren (oder derer, die es werden wollten).
- Geographische und Landschaftliche Bewegbenheiten.
- Lokal vorhandene Ressourcen (Holz- und Gesteinsarten)
- Genauer Zweck der Burg (Grenzüberwachung, Gewinnung der Kontrolle über Land oder Wasserwege, Rückzugsort eines größeren Adligen oder anderer Zweck).
- Anpassung an die lokalen Kriegsbräuche und lokal gängigen Waffentypen, denen es zu begegnen galt.
Es wäre z.B. völlig witzlos gewesen sehr stark ausgebaute westeuropäische Burgentypen, die auf eine Ausinandersetzung mit eher infanterielastigen Gegnern und einem für die Möglichkeiten der Zeit teilweise ausgefeiltem Militäringenieurswesen, die auf lange Belagerungsperioden eingestellt waren, irgendwo in Osteuropa zu bauen, wo die Kriegsführung ganz anders funktionierte, weil die schon wegen der Auseinandersetzung mit den Reitervölkern am Rand Europas wesentlich kavallerielastiger war, während, zumal bei den relativ kleinen und in der Regel eher schwach befestigten Ortschaften dort Belagerungen und Belagerungstechnik eine sehr viel kleinere Rolle spielten.
Diese Rolle, die Rom in der Antike hatte, übernahm Paris im Mittelalter.
Wie du auf die Idee kommst, weiß ich nicht.
Sofern wir davon reden, was stilbildend für das restliche Europa war, waren das bis in 17. Jahrhundert hinein, eher Burgund (Mittelalter), die oberitalienischen Städte und die Niederlande (Brabant, Flandern, später auch Holland).
Und als später der Hof des Ludwig des XIV. zum Vorbild in allen Fragen des Stils wurde, war es um die Mode geschehen: Nur was man in Paris trug, war modern. Das setzte sich unter Napoleon fort und ist bis heute geblieben, wenn auch inzwischen Mailand und New York an Bedeutung hinzugewonnen haben.
Pardon?
Diverse Modeerscheinungen des 19. Jahrhunderts sind eigentlich weniger französisch, als englisch.
Das im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert Großbritannien in so einigen Fragen des Lebensstils den Rang ablief, kann man auch in anderen damit verwandten Bereichen z.B. dem Gartenbau beobachten, wo der "englische Garten" dem "französischen" doch weitgehed den Rang ablief.
Was ist Liberalisierung denn anderes als Zurückdrängung der konservativen Ansichten über Sitte und Moral, die gerade von Kirchen verteidigt wurden und werden.
Liberalisierung ist vor allem das Aufbrechen überommener Strukturen, die nicht zwangsläufig irgendwas mit Moral zu tun haben müssen.
Wenn z.B. die Wirtschaftsordnung der meisten europäischen Länder im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert dadurch liberalisiert wurde, das die überkommenen Zunftprivilegien fielen und Gewerbefreiheit an deren Stelle trat, etc. dann war das nicht in erster Linie eine frage der Moral, sondern eine Reaktion auf die veränderten materiellen Grundlagen der beginnden Industrialisierung, die nach völlig anderen Prinzipien funktionierte, als die vormoderne Agrargesellscht, oder gar die überkommene Feudalverfassung und die in das überommene Regelkorsett einfach nicht mehr passte.
Diese Ordnung wurde nicht liberalisiert, weil sie als moralisch anstößig empfunden worden wäre, sondern weil die alte Ordnung unter den neuen Verhältnissen schlicht und einfach nicht mehr richtig funktionierte.